Sonntag, 19. August 2012

Nation/alismus

Zunächst, um nicht von Empörungswellen erschlagen und von Shitstorms zugesch*** zu werden; ich betrachte "Nationalismus" als ein zu überwindendes Problem. Der Film im Anschluss an dieses Posting kommt meiner Meinung zum Nationalismus sehr nahe.

Gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass der Ausweg aus dem Nationalismus nur möglich ist, wenn wir uns dem Nationalismus stellen und durch diesen regelrecht hindurch gehen. Anders ausgedrückt: Wir können Grenzen nur auflösen, wenn wir diese derart bewusst machen, dass sich diese praktisch von selbst überflüssig machen und erübrigen. Grenzen können nur aufgelöst werden, wenn sich die Beteiligten bereits bewusst sind, was sich lösen soll - und vor allem weitgehend einig sind, dass eine Auflösung für alle Beteiligten heilsam und von Vorteil ist.

"Grenzen auflösen??? Ja bist Du denn wahnsinnig?"
Persönlich empfinde ich mich in erster Linie als Erdenbürger. Mein Wirkungsradius ist lokal verankert, erreicht aber - vor allem dank Internet - potentiell einen Großteil der Welt. Nationalstaatliche Grenzen empfinde ich als eine der größten Ursachen für Kriege und Ausbeutung - und die Auflösung von Ländergrenzen durch einen Bewusstwerdungs- und Lösungs-Prozess der dazugehörigen Faktoren (!) empfinde ich als größte Hebelwirkung für Frieden und Wohlergehen in der Welt. Aber ich verstehe auch die Ängste der Menschen und einige der Bedürfnisse, die sich für nationale Grenzen aussprechen. Ich bin auch nicht dafür Grenzen einfach so und von heute auf morgen aufzulösen - sondern für sehr bewusste, tiefenwirksame und ausgleichende Prozesse. Vor einer Grenzöffnung kann ich mir z.B. vorstellen die jeweilige Grenze erst einmal für einen Tag völlig dicht zu machen - nur, um nochmal in das Bewusstsein zu rufen, was da überhaupt aufgelöst werden soll. Für ein wirkliches Lösen nationalstaatlicher Grenzen benötige ich die Menschen mit einem nationalen Blickwinkel, um möglichst alle Faktoren beider Seiten jenseits der jeweiligen Grenze in diesen ausgleichenden Prozess "einschliessen" zu können. Zunächst müssen jeweils die Grenzen und Blockaden im Kopf fallen und dazu braucht es eine Auseinandersetzung mit den Menschen, die sich durch eine Auflösung von Grenzen bedroht fühlen. Und tatsächlich braucht es auch einen Ausgleich für das Ungleichgewicht in der Welt, das wir selbst mit verursachen, und Grenzöffnungen zu einem tatsächlichen Risiko machen können. Durch die Wiedervereinigung von Deutschland sind wir prädestiniert für Grenzöffnungen und Einigungsprozesse - sicherlich aber nicht nur wegen der guten Seiten, sondern dank unserer Lernbereitschaft solche Prozesse künftig noch besser zu machen.

"Nationalismus" ist als Begriff nicht sonderlich geeignet, um griffig zu erklären, wogegen (oder wofür) man sich wendet bzw. stellt. Die unterschiedlichen Definitionen beleuchten stets einen anderen Blickwinkel, den wir heute meist mit einer "nationalsozialistischen" Brille gefärbt betrachten. Differenzierungen, wie "exklusiven, inklusiven oder horizontalen Nationalismus oder auch Patriotismus" sind wenig geeignet, um transnationale Verflechtungen zu beschreiben, in denen man für das eigene Land die Stimme erhebt (z.B. bei zu weitreichenden Eingriffen der EU in nationale Rechte). Jemand, der bereit ist sein Land zu verraten und verkaufen, könnte - ohne Klärung der Begrifflichkeit - ebenso als Anti-Nationaler / Anti-Nationalist beschrieben werden. Es lohnt sich also exakter zu werden, wenn man sich gegen "Nation/alismus" wenden und dies propagieren will.

In der bisherigen Form der Unvereinbarkeitserklärung der Piratenpartei (die sich u.a. gegen Nationalismus stellt), die ich zu 99 % vertrete und sogar aktiv zur Lösung "struktureller (kommunikativer!) Gewalt" beitrage, drängt sich mir die einäugige Blindheit unter einer piratischen Augenklappe zu sehr auf, um diese voll zu teilen. Würde ich da noch ein Auge zudrücken, könnte ich garnichts mehr sehen. ;-)

Man kann schwer GEGEN Nationalismus sein, wenn man keine Lösung oder gar Alternativen bzw. Übergangsregelungen in der Tasche hat. Daher kann ich pauschale Aussagen - auch der Piratenpartei - die sich alternativlos gegen Nationalismus stellen, derart nicht unterschreiben. In der Unvereinbarkeitserklärung der Piratenpartei fehlt mir ausserdem die klare Abgrenzung zur (kommunikativen) Gewalt von Links bzw. ein Bekenntnis zur "Freiheitlich demokratischen Grundordnung". Denn gerade eine pauschale und undifferenzierte Position gegen Nationalismus kann sehr wohl auch als eine Mobilisierung gegen die Souveränität der Völker verstanden werden. Und so sehr es wünschenswert wäre, dass sich die Völker einig wären und über die eigene Souveränität hinaus entwickeln - so sehr ist auch und gerade diese Souveränität schützenswert (wenn man die Nachbarländer nicht mal wieder überkommen und zwangsbeglücken möchte). Eine unklar ausgearbeitete Position gegen Nationalismus beinhaltet somit auch eine Stellungnahme GEGEN die uns umgebenden Nationalstaaten, die allesamt ein anderes Gefühl und Verständnis zu ihrer "Nation" haben - als ausgerechnet wir Deutschen. Der Begriff Nation hat Bedeutung für den juristischen und den politischen Bereich. So kann sich eine Nation auf das überstaatlich organisierte Völkerrecht berufen, das häufig als „internationales Recht“ bezeichnet wird, eine ethnische Gruppe dagegen nur auf Minderheitenschutz.

Lösungsvorschläge bzw. Eckpfeiler zur Problematik des "Nationalismus":

  • Immer dann, wenn sich jemand chauvinistisch über andere stellt und diese zu unterdrücken bzw. verletzen droht, befinden wir uns bereits in einem pathologischen - aber leider weit verbreitetem - Krankheitsbild. Nach Arno Gruen muss autoritären Persönlichkeiten ebenso autoritär begegnet werden - wohingegen der sog. "Rebell" Alternativen benötigt.
  • Laut Peter Alter ist der Nationalismus eine Form der kollektiven Identitätsstiftung. Es ist also vorstellbar, dass dem Nationalismus ein Identitätsverlust zugrunde liegt bzw. ein Auflösen nationalistischer Denkweisen auf einen Identitätsverlust hinaus läuft. Soweit dem Nationalismus ein gestörter Selbstfindungsprozess zugrunde liegt, eine Selbst-Identifikation über "äussere" Umstände und Indikatoren zu gewinnen, kann eine wirkliche Selbstfindung ohne die äusseren Abhängigkeiten zu einem neuen Weltbild führen. Die skurile Vorstellung eines "Nationalcharakters" sollte dabei durch Kultur und eine Selbstfindung über kulturellen, also multimedialen Selbstausdruck ersetzt werden.
  • Soweit der persönliche Lebensraum, also die lokale Verankerung ursächlich für den Nationalismus ist, besteht zur kosmopolitischen Grundlage "think global - act local" ein direkter Bezug. Die globale Denk- und lokale Handlungsweise könnte verdeutlicht werden und das Bewusstsein für die großen Zusammenhänge, die auf die kleinsten Teile wirken, angeregt werden.

Es gibt auch Vorteile, die wir beim Aufllösen von Landesgrenzen nicht einfach einer Gleichmachung opfern sollten: wie z.B. die hohen Umweltstandards in Deutschland. Es würde keinen Sinn machen die Grenzen aufzulösen und einen Mittelwert in Umweltfragen anzunehmen. Die nationale Vorreiterrolle, die Deutschland in Umweltfragen weltweit nunmal innehat, ist begrüssens- & erhaltenswert. Wir sind uns viel zu selten bewusst, dass unsere Selbstverständlichkeiten - wie z.B. Mülltrennung - andernorts noch völlig utopisch sind, aber sehr wohlwollend aufgenommen werden. Gleichzeitig ist eine solche Rolle natürlich nicht abhängig von Nationalstaaten als solchen.

Auch die Ängste von Bürgern gegenüber Fremden, Bürgern von Nachbarländern oder fernen Welten sind (aus meiner Sicht zwar nicht wirklich berechtigt, sondern primär pathologisch und in der Folge leider imanent) aber zumindest nachvollziehbar. Nationales Denken ist - ob nun am Ende sinnvoll, richtig oder gar krankhaft - derart verankert und Teil des politischen Meinungsbildes von Bürgern, dass eine gesellschafts-politische Auseinandersetzung unumgänglich ist.

Eine reine (alternativlose) Ablehnung oder gar Ausgrenzung nationalstaatlicher Positionen oder Denkweisen ist kontraproduktiv und verstärkt erst die (geistigen) Grenzen, die ja angeblich gelöst oder überflüssig gemacht werden sollen. Im Gegenteil: Jede massentaugliche Forderung, die letztlich nationalstaatliche Grenzen auflösen will, wird zunächst ein nationaler Schritt sein (siehe auch die Abgabe von Teilaspekten deutscher Souveränität an das bisherige Konstrukt namens EU dank ESM / Fiskalpakt). Daher kann ich mir - zumindest einen nationalen oder gar nationalistischen Blickwinkel oder gar Positionen (wohlgemerkt als Zwischenschritt) - nicht verbieten. Zumindest von der Piratenpartei hätte ich mir da mehr geistige Flexibilität und parteipolitischen Kommunikationswillen erhofft, als obige Erklärung erahnen lässt.

Die Anti-Nationalen Bewegungen und Bewegten sind mir in der Regel zu unüberlegt und schnell in ihrem sicher edlem Wunsch, die nationalstaatlichen Grenzen zugunsten der Gleichheit und Geschwisterlichkeit auflösen zu wollen. Wenn es nach mir ginge, dann wären die Grenzen im Kopf und Balken im Auge möglichst gestern schon weg - aber ich bin eben nicht alleine auf diesem Planeten und noch traue ich der politischen Willensbildung und Kraft der Kommunikation  ... zumindest jeweils gültig für die Folgegeneration.Dabei kommt es mir häufig so vor, als seien zwar die Probleme des Nationalismus erkannt und richtig analysiert - aber konkrete massentaugliche Schritte völlig ausgeblendet worden. Bei so viel Planlosigkeit ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn eher lokal verwurzelte Menschen Panik vor der Auflösung irgendwelcher Grenzen bekommen. Denn so - ohne Plan und ohne geradezu therapeutische Lösung der Mauern in den Köpfen - muss eine Grenzöffnung ja schief und zulasten eines Verlierers gehen.

Ich bin ein Kritiker des "Bedingungslosen Grundeinkommens", denn ich empfinde das BGE als "national betrachtet" als nicht durchführbar. Damit meine ich nicht die Finanzierung, denn die ist - auch angesichts der massiven Einsparungen - eher ein Klacks. Die Frage ist nicht WIE wir etwas finanzieren, sondern WAS wir bereits finanzieren - und vor allem WARUM WIR etwas finanzieren WOLLEN???

Die größeren Herausforderungen für ein nationales BGE sind - neben der Zuwanderung - primär die steuerlichen und finanzpolitischen Regelungen mit unseren Nachbarn, Europa und international. Hinzu kommt, dass ich ein BGE für Wirtschaftsnationen mit Sozialstaat als "Lösung" für ein "Luxusproblem" betrachte.

Global betrachtet (und eben nicht national!) ist unsere Aufgabe zunächst eine Art "Grund-NAHRUNGS-Einkommen" für die Menschen zu realisieren, auf deren Kosten wir aktuell leben und die dank unserem Wohlstand hungern bzw. auf Formen moderner Sklaverei angewiesen sind. Nach Aussagen von FIAN, die sich für das Recht auf Nahrung einsetzen, würde es den Industriestaaten 1% des BSP kosten, den Hunger global abzuschaffen.

Mir ist das BGE zu "national/istisch" - auch wenn ich die dahinterliegende Philosophie bzgl. "Neuer Arbeit" voll und ganz vertrete. Tatsächlich würde ein nationales BGE dafür sorgen, dass die Grenzen zu unseren europäischen Nachbarn sich verhärten. Die Einwanderung würde ein überdimensioniertes Thema werden - einige würden "unser BGE" gegenüber den Nachbarn und Asylsuchenden regelrecht verteidigen wollen. Formen von Zoll oder steuerliche Regelungen würden wieder vermehrt in das Spiel kommen und uns letztlich weit zurück werfen in dem Bestreben die Grenzen abzubauen. Nahezu alle Faktoren, die für ein "nationalistisches Klima" sorgen, kämen durch ein nationales BGE in's Spiel!

Weiter befürchte ich bei einer Einführung von (nationalem) BGE, dass diese Reform zwar einen tollen Namen tragen - aber von zu vielen parteipolitischen Köchen und deren Senf verwässert - und auf einen weiteren Abbau des Sozialstaates und Sozialwesens hinauslaufen wird. So war dies bislang in unserem Zeitalter der Krisen bei nahezu jeder gut gemeinten Reform. Es genügt eben nicht als Piratenpartei edle Positionen zu formulieren. Auch die auf uns zukommenden Kompromisse parteipolitischer Grabenkämpfe und Strippenzieher müssen bereits im Vorfeld erahnt und in der eigenen Argumentation abgesteckt werden - will man nicht hoffnungslos überrannt werden.


Eine Demokratie und Selbstbestimmung der Völker muss wachsen - langsam - in einer angemessenen Geschwindigkeit der Völkerverständigung, gesellschaftspolitischer Diskurse und der Einigung nahezu diametral gegenüberstehender Überzeugungen. Die selbstverantwortlichen Verwaltungsbezirke sollten dabei nicht zu groß werden und nicht fremdbestimmt ineinander greifen - vor allem, wenn sich ein europäisches oder gar globales Konstrukt überordnen will. Die Bundesländer in Deutschland könnten dabei ein gutes Vorbild sein, zeigen aber auch das Reibungspotential wenn es z.B. um Ausgleichszahlungen geht.

Ich bin nicht der Meinung, dass sich die Menschen naturgemäss in Völker mit eigenem Nationalcharakter aufteilen und eine Identifikation mit der eigenen Nation notwendig ist, damit  eine harmonische Völkergemeinschaft erblühen kann. Ich glaube aber sehr wohl daran, dass sich Kulturen über ihren multimedialen Selbstausdruck wie Sprache, Kunst, Musik, ... identifizieren können - oder gar "selbst finden" - wollen. Dafür ist eine Nation oder ein Nationalismus nicht  erforderlich. Nur in tragischen Einzelfällen ist ein Nationalstaat geeignet, um Kulturen, denen z.B. die Sprache, Selbstausdruck oder gar Existenzrecht verwehrt wird, zu schützen. Ob dies das einzige Mittel im Notfall ist, darf stark bezweifelt werden. In der Regel ist das Errichten von Nationalstaaten ein barbarisches Mittel der chauvinistischen Entzweiung und autoritärer Unterordnung. Die Kultur und Kulturen selbst haben keine Grenzen als solche - und die Grenzen von Nationalstaaten sind rein fiktive geistige Konstrukte, die nicht selten an der gelebten Realität vorbei existieren.

Was an Identifikation allerdings notwendig ist - unabhängig davon, wovon der jeweilige (Un-) Rechtsstaat sich ableitet - ist die Identifikation mit den eigenen Gesetzen und Regeln. Können diese nicht empathisch zumindest nachvollzogen werden, handelt es sich um eine fremdbestimmte Wahrnehmung der eigenen Gesetze. Da bleibt praktisch nur eine Unterordnung ohne - oder gar gegen - die eigene Einwilligung ... bzw. ein Übergehen und Überordnen gegenüber geltendem Recht. Hieraus entsteht, glauben wir Adorno, Fromm und Gruen, subtile kommunikative autoritäre oder antiautoritäre Gewalt - was sehr wohl den Boden für totalitäre, faschistische Systeme bilden kann.

Daher empfinde ich die Selbstbestimmung der Völker in ihren möglichst selbst gegebenen Verwaltungseinheiten - und seien dies aktuell auch Nationen - als eine Grundvoraussetzung für Frieden, Gewaltfreiheit und Völkerverständigung. Dies gilt auch - und ganz besonders -, wenn Souveränität z.B. an die EU oder ein übergeordnetes Konstrukt abgegeben werden soll. Dies ist in meinem Verständnis von Selbstbestimmung z.B. für Deutschland betrachtet nur durch eine Bestätigung und Wahrung der Souveränität möglich (GG Art. 146). Ich kann nachvollziehen, dass sich diese Souveränität aus der Wiedervereinigung logisch ergeben soll. Ohne gelebte und nachvollziehbare Akte (Rituale) der Selbstbestimmung ist aber ebenso nachvollziehbar, dass eine wirkliche Identifikation des jeweiligen Volkes mit den "eigenen" Gesetzen nahezu unmöglich ist. In der Folge werden als fremdbestimmt wahrgenommene Regeln ebenso fremdbestimmt und destruktiv gebrochen oder gar weiter gegeben.


Die Lösung des Nationalismus muss folglich durch eine Form der Bestätigung der  innewohnenden Souveränität des jeweiligen Volkes geschehen - vor allem, wenn die chauvinistischen geistigen Grenzen des Nationalismus gelöst und totalitäre faschistische Entwicklungen präventiv verhindert werden sollen!


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